VI ZR 316/08, Urteil vom 06.10.2009
Der Kläger parkte in einer 2 m breiten Parkbucht am Straßenrand. Die eigentliche Fahrbahn war weitere 7 m breit. Der Kläger beugte sich, bei teilweise geöffneter linker, hinterer Fahrzeugtür in das Fahrzeug, um sein auf dem linken, hinteren Rücksitz sitzendes Kind abzuschnallen. Der Beklagte fuhr mit einem LKW mit Anhänger in einem Abstand von ca. 0,95 m an dem PKW vorbei, wobei die Tür sich aus unbekanntem Grund, sei es durch eine Bewegung des Klägers oder auch den Luftzug des vorbeifahrenden LKWs vollständig öffnete. Dies führte dazu, dass der Anhänger des Lastzuges mit der Tür kollidierte. Der Kläger begehrte hundertprozentigen Schadensersatz. Die Vorinstanzen bewerteten die Haftungsverteilung zunächst mit 40 : 60 zu Lasten des LKWs (Amtsgericht) bzw. 50 : 50 (Landgericht München I) und ließen die Revision zu.
Das Landgericht führte insbesondere aus, dass für den Fahrer des LKWs bei der Annäherung erkennbar gewesen sei, dass die Tür am geparkten PKW teilweise geöffnet war und eine Person in der geöffneten Tür stand. Der LKW-Fahrer habe in dieser Konstellation nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Tür sich nicht weiter öffne, vielmehr habe er mit einem weiteren Öffnen der Tür, bis hin zu ihrem maximalen Öffnungswinkel, sei es durch den Luftzug seines Fahrzeugs, sei es durch eine Bewegung des Klägers, rechnen müssen. Der LKW-Fahrer habe deshalb einen ausreichenden Sicherheitsabstand einhalten müssen, um auch bei sich vollständig öffnender Tür nicht zu kollidieren, notfalls auch sein Fahrzeug anhalten müssen, wenn dies nicht möglich gewesen wäre. Demgegenüber habe aber auch der Kläger berücksichtigen müssen, dass er durch das Öffnen der linken Tür seines Fahrzeugs zumindest den Rand des rechten Fahrstreifens in Anspruch genommen und dadurch eine Gefahrenquelle geschaffen habe. Der Kläger habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass vorbeifahrende Fahrzeuge einen auch bei sich weiter öffnender Tür hinreichenden Sicherheitsabstand einhalten würden. Deshalb habe für den Kläger beim Hantieren mit teilweise geöffneter Fahrzeugtür die Verpflichtung bestanden den etwa herannahenden Verkehr im Auge zu behalten und gegebenenfalls die Tür durch Festhalten gegen weiteres Öffnen zu sichern.
Der BGH bestätigte die Haftungsquotelung durch das Landgericht als im tatrichterlichen Ermessensbereich liegend. Insbesondere hob der BGH hervor, dass die Bezugnahme des Landgerichtes auf den Maßstab des § 14 Abs. 1 StVO nicht rechtsfehlerhaft gewesen sei. § 14 Abs. 1 StVO verlangt, dass derjenige der einsteigt oder aussteigt sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, ordnet also den höchsten Sorgfaltsmaßstab der Straßenverkehrsordnung an. Der BGH stellte im Einklang mit der herrschenden Rechtsprechung nochmals klar, dass dieser Sorgfaltsmaßstab nicht nur für den Moment des Besteigens oder Verlassens des Fahrzeugs gilt, sondern für die gesamte Dauer eines Ein- oder Aussteigervorgangs. Hierzu gehörten alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Besteigen oder Verlassen des Fahrzeugs stehen. Das Einsteigen sei erst beendet, wenn die Fahrzeugtür wieder geschlossen sei. Umgekehrt sei der Vorgang des Aussteigens erst beendet, wenn die Fahrzeugtür wieder verschlossen und darüber hinaus die Fahrbahn verlassen worden sei. Deshalb gehörten Situationen, in welchen der Insasse eines Kraftfahrzeugs sich - im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Ein- oder Aussteigevorgang - bei geöffneter Tür in das Fahrzeug hinein beugt, beispielsweise um Gegenstände herauszunehmen oder hineinzulegen oder einem Passagier beim Einsteigen oder beim Aussteigen zu helfen, zu den vom Sorgfaltsmaßstab des § 14 Abs. 1 StVO erfassten Lebensvorgängen. Der BGH betonte, dass die aus § 14 Abs. 1 StVO resultierenden Sorgfaltspflichten sich (ausdrücklich entgegen der Entscheidungen OLG Bremen, NJW-RR 2008, 1203; LG Berlin, VersR 2002, 864) also gerade nicht ausschließlich auf solche Situationen beziehen, bei denen durch das unvorsichtige Öffnen einer Fahrzeugtür für andere Verkehrsteilnehmer ein Überraschungsmoment besteht. Vielmehr stelle das Gesetz gerade nicht auf das Öffnen der Fahrzeugtür, sondern auf den Lebensvorgang des Einsteigens oder Aussteigens als solchen ab, weil dieser aus unterschiedlichen Gründen mit erheblichen Gefahren für den fließenden Verkehr verbunden sein könne. Dies zeige sich schon daran, dass der Sorgfaltsmaßstab eben gerade nicht nur für das Aussteigen, sondern auch für das Einsteigen angeordnet sei, bei dem typischerweise die einsteigende Person bereits vor dem Öffnen der Fahrzeugtür für den fließenden Verkehr erkennbar sei.
Aufgrund der sich aus § 14 Abs. 1 StVO ergebenden Sorgfaltsanforderungen sei der einsteigende oder aussteigende Verkehrsteilnehmer also nicht nur beim Öffnen der Fahrzeugtür zu besonderer Vorsicht verpflichtet, sondern während des gesamten Ein- oder Aussteigevorgangs. Hierzu gehöre auch, auf herannahenden Verkehr zu achten und die Fahrzeugtür während dessen Passierens gegen ein weiteres Öffnen zu sichern, einerlei ob im Hinblick auf den Luftzug des vorbeifahrenden Fahrzeugs, oder gegen ein eigenes Aufdrücken der Fahrzeugtür.
Anmerkung: dieses Sicherungsgebot gilt zweifellos nicht nur für die im konkret entschiedenen Fall in Betracht kommenden Gründe, warum sich die Fahrzeugtür weiter geöffnet hatte, sondern ist auf alle vorhersehbaren Anlässe übertragbar, die zu einem Öffnen der Fahrzeugtür führen könnten, also beispielsweise auch Wind, Hangneigung, Verhalten anderer beteiligter Personen wie etwa Fahrzeugpassagiere (z.B.: das gerade abgeschnallte Kind drückt oder tritt gegen die Fahrzeugtür), etc.
Der BGH führt weiter aus, dass bei einer Schädigung eines anderen Verkehrsteilnehmers im Zusammenhang mit dem Einsteigen oder Aussteigen ein Anscheinsbeweis für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- oder Aussteigenden spricht.
Schließlich hält der BGH noch fest, dass für die Bildung der konkreten Haftungsquote nach § 17 StVG auch unter Berücksichtigung des Sorgfaltsmaßstabes aus § 14 Abs. 1 StVO, anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles, abzuwägen ist, inwieweit den anderen Verkehrsteilnehmer eine Mitverantwortung für den Unfall trifft, etwa weil er einen zu geringen Seitenabstand eingehalten und/oder eine besonders hohe Betriebsgefahr hat, etc.
Anmerkung: § 14 Abs. 1 StVO bedeutet also, trotz des besonders hohen Sorgfaltsmaßstabes, für denjenigen der einsteigt oder aussteigt, keineswegs zwingend eine alleinige Haftung, sondern lässt die Möglichkeit offen, dass eine Mithaftung des vorbeifahrenden Verkehrsteilnehmers besteht, wenn dieser seinerseits fahrlässig gehandelt, insbesondere einen nach den Umständen des Falles unzureichenden Sicherheitsabstand eingehalten hat. Umgekehrt wird jedoch derjenige, der einsteigt oder aussteigt im Falle eines damit zusammenhängenden Schadensfalles damit rechnen müssen, in den allermeisten Fällen zu einem erheblichen, unter Umständen überwiegenden Prozentsatz zu haften. Insbesondere bei relativ engen Straßen, speziell im Zusammenhang mit Gegenverkehr, könnte die Sorgfaltspflicht aus § 14 Abs. 1 StVO so weit gehen, dass bei Herannahen anderer Verkehrsteilnehmer der Vorgang des Einsteigens oder des Aussteigens unterbrochen werden und die Türe vorübergehend geschlossen, bzw. die Fahrbahn verlassen werden muss, um dem fließenden Verkehr ein gefahrloses Passieren mit hinreichendem Seitenabstand (zum dann geschlossenen) parkenden Fahrzeug zu ermöglichen.
Da im vorliegenden Falle, neben dem zu geringen Sicherheitsabstand als solchem, die verhältnismäßig hohe fahrzeugimmanente Betriebsgefahr eines Lastkraftwagens, noch dazu eines Lastkraftwagens mit einem Anhänger, zu Lasten des vorbeifahrenden Verkehrsteilnehmers berücksichtigt wurde und zu einer Haftungsverteilung von 50 : 50 geführt hat, welche der BGH nicht beanstandet hat, ist damit zu rechnen, dass in ähnlichen Fällen, jedoch unter Beteiligung eines vorbeifahrenden PKW, die Haftungsquote stärker zu Lasten des einsteigenden oder aussteigenden Verkehrsteilnehmers gebildet werden könnte.